Texte Diakonie - Theologie

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Rückblick auf drei Jahrezehnte Tätigkeit in der Diakonie

 

[Ansichten]  „Die Vergangenheit mag es nicht, wenn ich ihrer habhaft werden will. Je direkter ich mich ihr nähere, desto deutlicher begegne ich statt der Vergangenheit dem Motiv, das mich gerade jetzt heißt, die Vergangenheit aufzusuchen.“ So zu lesen in Martin Walsers Roman ‚Ein springender Brunnen‘ von 1998.[1] Die Vergangenheit, in diesem Falle meine Vergangenheit, das sind drei Jahrzehnte der Tätigkeit in einer Sozialwirtschaft, die als wohlfahrtsverbandlich organisierte Diakonie den protestantischen Kirchen nahesteht und zugleich eine ‚eigene Welt‘ ist, Unternehmungen,  Dienste und Verbände umfassend, Traditionen und Professionen ausbildend, Politik und Gesellschaft beeinflussend wie auch von ihnen bestimmt. Das Motiv, auf diese Vergangenheit aus dem Abstand zu blicken, hat zu tun mit meinem Interesse, diese Vergangenheit nicht in erster Linie aus dem persönlichen Erleben darzustellen, sondern die Veränderungen, die in diesem Zeitabschnitt von 1978 bis 2008 die protestantische Diakonie in Deutschland durch interne Prozesse und Anstöße von außen zu einer großen, alle Bereiche des Lebens umfassenden komplexen Organisation von sozialen Dienstleistungen haben werden lassen, zu verstehen, aber eben auch weiterzudenken, gewonnene Erfahrungen und Einsichten als Anfragen an die gegenwärtige wie auch die zukünftige Organisation und Strategie von Diakonie zu reflektieren, mithin nicht beim Status quo stehen zu bleiben. Ich habe gerade jetzt Grund und Anlass, die Vergangenheit aufzusuchen oder sie zumindest als background sichtbar werden zu lassen, weil der Abstand zur praktischen Tätigkeit schnell zunimmt und die vielfältigen, im Arbeits- und Führungsalltag gewonnenen Ansichten eines Hilfemonopolisten wie die Diakonie mehr und mehr verblassen. Rückblickend drängt sich der Eindruck auf, dass die Prozesse zögerlicher Modernisierung des gesamten Diakoniesektors auf halber Strecke zum Stocken kommen könnten, dass zwar ein beachtliches  Wachstum in diesem Zeitraum stattfand und auch künftig stattfinden wird, die strategischen Eck- und Zielpunkte für eine zeitangepasste  Weiterentwicklung aber viel zu wenig geklärt werden.

 

Alles in allem macht es Sinn, mit Bezug auf die jüngere Entwicklung der Diakonie und ihre aktuelle Gestaltung den Veränderungs- und Innovationsbedarf in den Blick zu nehmen, den dieses imposant vielfältige gesellschaftliche Segment einer kirchennahen protestantisch gefärbten Sozialwirtschaft heute aufweist. Managern, Führungskräften, Aufsichtsräten in der Diakonie sind damit Themen und Problemanzeigen auf den Tisch gelegt, die, so hoffe ich, auf einer in die Zukunft weisenden Agenda der protestantischen Tätigkeit im Sozial- und Gesundheitswesen nicht fehlen werden. Zu Beginn der 1970iger Jahre, als ich das Thema Diakonie unerwarteter Weise – zunächst nur in der zeitgeschichtlich beleuchteten Außenansicht – zu meinem beruflichen Schwerpunkt zu machen begann, fehlte ein solche Agenda noch. Kritische Selbstreflexion in einer Zeit, in der die Behebung wesentlicher Nachkriegsnöte zu Ende ging und der quantitative und qualitative Ausbau des Sozialstaates wirtschaftlich möglich wurde, war eine Ausnahme. Obendrein fehlte mir damals, am Ende eines Studiums der evangelischen Theologie die Anschauung der Realitäten in Einrichtungen und Anstalten, Konzepte und Strategien des Diakonischen Werkes kannte ich nicht, ich ahnte nichts von der Tiefe und Weite dieses Handlungsfeldes und seiner gesellschaftlichen Bedeutung.

 

[Nachkrieg und Restauration/1968ff.]  1968 konnte man sein Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Hamburg nicht unberührt von Anti-Springer- und Vietnam-Demonstrationen abschließen. Die Politisierung des Hochschulbetriebs, Initiativen zur grundlegenden Reform des Theologiestudiums und politische Spontanaktionen zur friedensethischen Aktivierung der Kirchen, all das wirkte atmosphärisch bis in die Klausur-und Prüfungsräume hinein. Als Pastorensohn in der vom deutschen Wirtschaftswunder benommenen Adenauerära aufgewachsen, mit einer schulischen Bildung ausgestattet, deren Geschichtsbild irgendwo kurz nach dem Ersten Weltkrieg endete, war ich Anfang 1969 nach dem ersten theologischen Examen ein durch und durch politisierter ‚Kandidat‘, ein, wie es später dann rückschauend hieß,  ‚Achtundsechziger‘, und das mit der damals typischen Prägung als sozialethisch, ‚weltpolitisch‘ (Vietnam, Lateinamerika) und traditionsabbrechend auftretender Reformeiferer.

 

An der Ruhr-Universität Bochum hatte ich dann im Anschluss an das Studium von 1969 bis 1973 in der Praktischen Theologie bei Prof.Dr.Hans-Eckehard Bahr an der Ruhr-Universität Bochum die Möglichkeit, eine Doktorarbeit zu schreiben. Der Wechsel aus dem stadtbürgerlichen Milieu in Hamburg in das Ruhrgebiet mit seiner zu der Zeit noch nachwirkenden  Arbeiterkultur kam einer kleinen Auswanderung gleich. Aus mir bis heute nicht im Einzelnen nicht mehr erkennbaren Motiven bin ich nach einer kurzen Suchphase auf ein Promotionsthema gestoßen, das mir damals noch kaum vertraut war. Ausgangspunkt war mein Interesse an der kirchlichen Nachkriegsentwicklung im westlichen Deutschland und die Frage, welche gesellschaftlich-politischen Einflüsse auf die evangelischen Kirchen in Deutschland sich in den Jahren nach 1945 erkennen lassen. Das viel zu weite Thema konnte eingegrenzt und auf ein spezielles Handlungsfeld am Rande der verfassten Kirche eingegrenzt werden, auf die Diakonie in ihrer in der Nachkriegssituation sich verändernden Organisation und Begründung. 1973 konnte das Promotionsverfahren  mit einer Arbeit über das Thema „Die protestantische Diakonie in der BRD von 1945 -1971. Entwicklung und Strukturprobleme“ abgeschlossen werden. Dieser erste Versuch, eine Struktur- und Ideengeschichte der Diakonie für die Nachkriegszeit vorzulegen, war von Anfang an umstritten. Das von Eugen Gerstenmaier 1945 gegründete Evangelische Hilfswerk und die bis dahin bereits ein Jahrhundert alte Innere Mission, die 1957 zum Diakonischen Werk zusammengeschlossen wurden, konnten sich mit dem Bild, dass ich von ihnen mit meiner Arbeit hingestellt hatte, nicht einverstanden erklären. Es wurden Versuche unternommen, die Annahme der Arbeit an der Ruhr-Universität zu verhindern[2] und als dies nicht gelang, hat das Diakonische Werk dann doch die allerdings nie eingelöste Zusage gegeben, die Veröffentlichung meiner Arbeit unter dem Titel „Diakonie und Restauration. Kritik am sozialen Protestantismus in der BRD“ 1975 mit einem Druckkostenzuschuss zu fördern. Mit einer beruflichen Tätigkeit in der Diakonie rechnete ich nach alledem nicht.

 

Vieles wäre aus dem Rückblick zum ‚roten Degen‘[3] und seiner ‚Diakonie und Restauration‘ zu sagen: dass die Materialbasis unzureichend war, da die Möglichkeit, Archivmaterial einzubeziehen, nicht gegeben war; dass meine bewertenden Aussagen und Maßstäbe eindeutig linkem, sozialistischem Gedankengut zuzurechnen waren, ohne dass diese Voraussetzungen von mir kritisch geprüft worden waren; dass manche Urteile ebenso kühn wie ungerecht und anmaßend waren; dass die historisch-kritische Einordnung der Diakonie bezüglich der These von der Nullpunktsituation im Deutschland von 1945 völlig unangemessen war und eine differenzierte Berücksichtigung der Tatsache sowie der politischen Notwendigkeit der Westorientierung der Bundesrepublik fehlte. Zeitbedingt und biographisch vermittelt war ‚Diakonie und Restauration‘ ein einseitiges, mit viel Schwung erstelltes Produkt des Protestes und des Alles-anders/besser-machen-Wollens, eine Arbeit, die gleichwohl zu mir gehört. Immerhin war dies ein erster Versuch, die Systemgeschichte der Diakonie bis zum Ende der 1960iger Jahre politisch und kirchlich in den Blick zu nehmen. Rückblickend wird am Beispiel von Eugen Gerstenmaier und seiner Gründung des Evangelischen Hilfswerks aber auch deutlich, dass sich, was ich damals nicht zu würdigen verstand, nach 1945 mit dieser neu und schnell expandierenden Gestalt von Diakonie nicht nur restaurative Tendenzen durchsetzten, sondern dass mit dem Hilfswerkkonzept Neues und bis heute nicht Erledigtes gedacht wurde, insbesondere  im Verhältnis von Diakonie, Kirche und Gesellschaft.[4] Diakoniegeschichtliche Studien, das zeigt dieses Beispiel, sind alles andere als belanglos, sie sind, wenn sie sozial- und zeitgeschichtlich fundiert werden, als kritische Erinnerungs- und Verstehensressource notwendig und wertvoll.[5]

 

[Kaiserswerth und die große Welt/1978-1993]  Nach einer fünfjährigen pfarramtlichen Tätigkeit in Bochum[6], die sich an Promotion und Vikariat angeschlossen hatte, erhielt ich zu meiner Überraschung 1978 die Anfrage, ob ich bereit wäre, in das Diakoniewerk Kaiserswerth in Düsseldorf zu wechseln und dort an der Seite von Dr.Ferdinand Schlingensiepen, dem damaligen Vorsteher der traditionsreichen Diakonissenanstalt, zunächst als Direktionsassistent tätig zu werden, unter anderem mit der Aufgabe, für die Direktion ‚theologische und diakonische Grundsatzfragen‘ zu bearbeiten. Diesem Angebot folgend schlossen sich insgesamt fast fünfzehn Jahre in Kaiserswerth an, in denen ich bald in die Direktion einbezogen und 1986 schließlich als Vorsteher berufen wurde, der nach Kaiserswerther Ortstradition bis dahin zugleich Vorsteher der Diakonissen und Vorsitzender der Direktion des Diakoniewerkes insgesamt war. Der Wechsel nach Kaiserswerth war mit einem Vorgang verbunden, den ich damals nur beiläufig zur Kenntnis nahm, der sich rückblickend aber als symptomatisch für meine beruflichen Erfahrungen im Verhältnis zur sogenannten verfassten Kirche erwies. Als Gemeindepfarrer in Bochum ordinierter Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen, wurde ich 1978 in aller Form und offiziell aus dieser Kirche entlassen, erhielt in Düsseldorf dann nicht etwa den Status als Pfarrer der rheinischen Landeskirche, sondern wurde – gleichsam vor den Toren der Kirche - Vereinsgeistlicher mit unmittelbarer Einordung in das Diakoniewerk Kaiserswerth. Das lag ganz und gar auf der Traditionslinie der Inneren Mission, die stets auf ihre organisatorische Unabhängigkeit von den evangelischen Kirchen Wert gelegt hatte. In dienstrechtlicher Hinsicht erlebte ich Diakonie nun als eine eigene Welt, die zwar kirchennah zu sein schien, die aber aus kirchenleitender Sicht als exterritoriales Gelände angesehen wurde und – heute sage ich – oft genug weiterhin so angesehen wird. Kühle Distanz mit viel suggestivem Brüderlichkeitspathos auf beiden Seiten und Uhren, die in der Diakonie und in der Kirche jeweils ganz unterschiedlich getaktet sind – ein Unverhältnis, phantasielos, unkooperativ beiderseits.

 

Die Jahre im Norden Düsseldorfs im historischen Städtchen Kaiserswerth am Niederrhein waren Jahre, in denen ich eine Institution erlebte, die im 19.Jahrhundert als ein innovatives Unternehmen gegründet worden war, dem aber zwischenzeitlich die zentrale Geschäftsidee abhanden gekommen war. Das Diakoniewerk Kaiserswerth als ehemals maßgebende Diakonissenanstalt mit weltweiter Ausstrahlung litt und lebte in den 1980iger Jahren unter der Last seiner großen Vergangenheit. Die Bereitschaft von Frauen, sich auf den Beruf einer Diakonisse ‚Kaiserswerther Prägung‘ mit der Verpflichtung auf Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit einzulassen, hatte nach einer kurzen, zu Hoffnung Anlass gebenden Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1960iger Jahren dramatisch abgenommen. In Kaiserswerth löste dies eine Dauerkrise aus, die den Bestand des Diakoniewerkes zu gefährden drohte. Das Diakonissenmutterhaus, dem in seiner Blütezeit mehrere hundert eingesegnete Schwestern angehört hatten, war für mehr als ein Jahrhundert eine Agentur zur Gestellung von Fach- und Leitungskräften in evangelischen Krankenhäusern, Alteneinrichtungen und Gemeindekrankenpflegestationen überall in Deutschland gewesen, eine Funktion, die nun nicht mehr zu leisten war. In den späten 1960iger Jahren begann ein schmerzlicher Prozess: Stationen, auf denen bisher über Jahrzehnte hinweg Kaiserswerther Diakonissen tätig waren, mussten aufgegeben werden. Viele der altgewordenen Schwestern kehrten nach Kaiserswerth zurück und erhöhten den Anteil der zu versorgenden und zu pflegenden Schwestern, für deren Alterssicherung keine ausreichenden Rücklagen gebildet worden waren. Zu dieser Rückzugsbewegung gehörte auch die Schließung des Gäste- und Repräsentationshauses in Rom als einer gleichsam inoffiziellen Vertretung des deutschen Protestantismus unweit des Vatikans im Jahre 1988, damit die sogenannte Kaiserswerther Auslandsarbeit der Diakonissen im Mittelmeerraum und in Südamerika endgültig beendend. Aus zahlreichen Gemeindepflegestationen in rheinischen Kirchengemeinden kehrten die alt gewordenen Schwestern ebenfalls zurück, ohne dass man aus dem Mutterhaus eine neue Schwester zu schicken in der Lage war. Kaiserswerth verlor auf diese Weise in der Evangelischen Kirche im Rheinland seine langbewährten Kontakte zur gemeindlichen Basis. Der Bedeutungsverlust der sogenannten ‚Diakonissensache‘ und ihr absehbares Ende in der bisherigen Gestaltung erzwang zugleich eine grundlegende ökonomische Umsteuerung. Die Diakonissenanstalt hatte sich über Jahrzehnte hinweg maßgeblich durch die Stationsgelder finanziert, die Kaiserswerth für die Tätigkeit der Diakonissen in den Gemeinden und Krankenhäusern und an sonstigen Einsatzorten erhielt. Mit dem Wegfall dieser Stationsgelder, die der Anstalt gezahlt wurden, weil und indem die Diakonissen ihren Dienst lediglich auf der Basis eines Taschengeldes leisteten und ansonsten als ‚Töchter des Hauses‘ vom Mutterhaus in ‚guten und schlechten Zeiten‘ auf Fürsorge und Versorgung rechnen konnten, ist die Finanzierung des Unternehmen mit seinen Einrichtungen auf dem großen Anstaltsareal im Düsseldorfer Norden  ganz und gar von Pflegesätzen und staatlichen Leistungen abhängig geworden. Das Kaiserswerther Akutkrankenhaus, die Florence-Nightingale-Krankenan-stalten mit ihrem guten Ruf auch wirtschaftlich erfolgreich, musste mit seinen Erträgen über Jahre hinweg die unzureichende Finanzierung des Mutterhauses ausgleichen und die für eine große aktive Diakonissengemeinschaft ausgelegte kostspielige Infrastruktur der Anstalt helfen zu erhalten. Mit dem schleichenden, zahlenmäßig jedoch klar erkennbaren Rückgang der Zahl aktiver Diakonissen fragte man sich schließlich immer häufiger, was am Ende dieser Entwicklung von der Kaiserswerther Diakonissenanstalt mit ihrer innerdeutschen und internationalen Leuchtturmfunktion übrig bleiben würde. Würde man dann noch von einer religiös-kirchlich bestimmten Diakonie sprechen können, wie sie vorbildlich und alle Leitbilder überflüssig machend durch die Diakonissen und ihre Tracht verkörpert worden war? Würde Kaiserswerth in Zukunft nichts anderes als ein säkularer ‚Sozialkonzern im Düsseldorfer Norden‘ sein, eine sozialstaatlich alimentierte ‚Pflegesatzdiakonie‘, Arbeitsplatz für Mitarbeitende mit üblicher tariflicher Entlohnung, denen der alte Diakonissenspruch ‚Mein Lohn ist, das ich darf‘ fremd ist?

 

In den 1980iger waren im Diakoniewerk Kaiserswerth rund 1200 Mitarbeitende beschäftigt: Ärzte, Krankenpflegekräfte, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Handwerker, Lehrkräfte, eine kleine Zahl von Diakonissen. Die Mitarbeiterschaft wuchs in dieser Zeit kontinuierlich von Jahr zu Jahr. Das fachliche Portefolio umfasste das Krankenhaus mit 600 Betten, Alten- und Pflegeeinrichtungen für 300 Menschen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Sozialpädagogische Ausbildungsstätten, Krankenpflegeschulen, ein Weiterbildungsinstitut, ein Zentrum für Klinische Seelsorge-Ausbildung, eine Buchhandlung und eine Werkstatt für Paramentik. Der Jahreshaushalt wies damals mehr als 100 Mio DM aus.

  

Viele der Themen, die in Kaiserswerth in den 1980iger Jahren virulent waren – Verlust einer zentralen Geschäftsidee, Auflösung des Kontakts zur kirchlichen Gemeindewelt, ökonomische Kursänderung, Säkularisierung des Sinns der Diakonie – kennzeichneten die Situation in den Einrichtungen und Diensten der Diakonie damals nahezu überall, nicht nur dort, wo traditionell Diakonissen maßgeblich die Arbeit geleistet hatten. In Kaiserswerth nahmen die Auseinandersetzungen im Zusammenhang dieser Herausforderungen zwar keinen dramatischen Verlauf, sie paralysierten die Leitungsebene jedoch phasenweise ganz erheblich, es kam zu einem stets leicht depressiv gestimmten Management des muddling through. Charakteristisch für die damalige Zeit waren auch Veränderungen auf der Direktionsebene. Der kaufmännische Leiter, bis dahin eher ein besserer Buchhalter im Schatten des Vorstehers, erhielt wegen der sich ändernden Finanzierungsbedingungen des Unternehmens ein neues, sehr viel größeres Gewicht. Der Vorsteher in seiner Eigenschaft als Theologe, seitens der Leitung der rheinischen Kirche immer wieder verantwortlich gemacht für den ‚diakonisch-kirchlichen Geist‘ des Diakoniewerkes, musste am Veto des Kaufmanns enden, der mangelhafte Erlössituationen und defizitäre Arbeitsbereiche vor Augen hatte. In den Direktionssitzungen häuften sich die Situationen, in denen nur noch ein Gefühl der Lähmung herrschte, es war eine ‚Mehltau-Phase‘. Um zu versuchen, diesen Zustand zu überwinden, beschloss die Direktion 1984, eine Bestandaufnahme aller Tätigkeiten und der Organisation des Diakoniewerkes zu erarbeiten und als Grundlage für fällige Richtungsentscheidungen einen Zielrahmen zu entwickeln, der die künftige Unternehmenspolitik mit den drei Modellen ‚erhalten‘, ‚erhalten und verkleinern‘ und ‚erhalten, verkleinern, erweitern‘ beschreiben sollte. Nach einem umfänglichen Erarbeitungsprozess legte ich Anfang 1986 diesen Zielrahmen, das sogenannte ‚blaue Buch‘ mit einem Umfang von 150 Seiten der Direktion und dem aufsichtsführenden Kuratorium vor.[7] Wirtschaftlichkeit und Kirchlichkeit des Diakoniewerkes sollten gesichert werden, die Weiterentwicklung und Veränderung der Dienstleistungen im Einzelnen, mithin die Produktpalette und die Produktentwicklung wurden wenig beleuchtet. Die Wirkung dieser Analyse und Projektionen blieb nahezu unbedeutend, denn von 1987 bis 1989 folgte plötzlich eine Phase großer Unruhe an der Spitze des Diakoniewerkes. Der langjährige Vorsteher dankte völlig überraschend ab, ich wurde in seine Nachfolge berufen, die Vorsteherin als leitende Diakonisse und Direktionsmitglied erkrankte und starb, der Vorsitzende des Kuratoriums erkrankte schwer, ein neuer Vorsitzender wurde nicht sofort gefunden, der kaufmännische Direktor, auf den ich als einem mir vertrauten und kompetenten Direktionskollegen gerechnet hatte, musste aus Krankheitsgründen seinen Dienst beenden und eine Nachfolgeregelung hatte nur für einige Monate Bestand. In dieser Zeit hatte ich mehrmals monatelange nahezu als Einziger an der Spitze des Diakoniewerkes zu stehen. Die Unterstützung durch das Kuratorium, das sich immer noch von einer längst nicht mehr wirksamen Vergangenheit nach dem Motto ‚Kaiserswerth und die große Welt‘ beeindrucken ließ, war wenig hilfreich, bremsend und übte bisweilen eine entwürdigende Kontrolle aus. Kaiserswerth traute sich damals den Weg in eine neue Zeit der zum Unternehmen gewordenen vergangenheitsreichen Diakonissenanstalt nicht wirklich zu.

 

Aus den Kaiserswerther Jahren sind zwei Vorgänge erwähnenswert, die beispielhaft für Positionierungs- und Entscheidungszwänge sind, denen man sich in der Vertretung und Leitung eines Diakonieunternehmens aussetzt. 1979, noch nicht Mitglied der Leitung des Diakoniewerkes, machte ich in Kooperation mit dem Berliner Missionswerk der Berlin-Brandenburgischen Kirche, das innerhalb der EKD für kirchlich-evangelische Arbeit im Nahen Osten die Verantwortung trägt, eine mehrwöchige Dienstreise in die von Israel besetzten Gebieten in der Westbank. Die Kaiserswerther Diakonissenanstalt hatte dort bereits im 19.Jahrhundert die Bildungseinrichtung Talitha Kumi bei Beit Jala/Bethlehem gegründet, die nun unter den schwierigen politischen Verhältnissen in dem von Israel kontrollierten Land nach Perspektiven für die palästinensischen Abiturienten der Schule suchte. Meine Beratungsarbeit vor Ort ließ mich zwischen der Westbank und dem Staatsgebiet von Israel hin- und herpendeln, ich habe intensive Einblicke in die gespannte und damals schon aussichtslose Lage im ganzen Land erhalten. Mein Tagebuch und ergänzende Informationen veröffentlichte ich 1980 unter dem Titel ‚Die unsichtbare Mauer‘[8]. Mein intensives Bemühen, die Interessen beider Seiten in diesem Konflikt im Zusammenhang mit der Schuld Deutschlands für den Holocaust zu sehen, trug mir schließlich den Vorwurf des Antisemitismus ein, und zwar aus kirchlichen Kreisen in Deutschland wie auch anonym aus Israel.

 

Der andere Vorgang lässt erkennen, wie heikel es sein kann, eine fällige Unternehmensentscheidung mit einer begründeten ethischen Position zu treffen. In den Florence-Nightingale-Krankenanstalten des Diakoniewerkes stand 1991 eine Entscheidung darüber an, ob die Frauenklinik mit dem Angebot der In-vitro-Fertilisation ein reproduktionsmedizinisches Zentrum eröffnen könnte. Intensive Recherchen, Gespräche mit Pflegevertretern, Ärzten und Beratern führten dazu, dass ich im Juni 1991 dem Kuratorium mit einer umfangreichen Stellungnahme die Ablehnung dieses Projekts empfahl: „Nicht Aufbau eines reproduktionsmedizinischen Zentrums , sondern intensive Bemühung um ein Beratungskonzept für kinderlose Paare und Einzelne in enger Verbindung mit der Frauenklinik.“[9] Leitende Theologen der rheinischen Kirche hielten es für unangemessen, dass von theologischer Seite wertend und entscheidend in das Geschehen innerhalb eines Krankenhauses der Diakonie eingegriffen werde. Das Kuratorium legte mir nahe, kurzfristig meine Haltung zu überdenken und dann auch zu ändern. Das war mir nicht möglich. Einige Tage hatte ich mich zu fragen, was dieser Vorgang für die Fortsetzung meiner Vorstehertätigkeit bedeutet.  

 

Der Zeit des Umbruchs und der stockenden Modernisierung in den Kaiserswerther Jahren setze ich mit jenen Diakonissen ein kleines Denkmal, die als beeindruckende Fachfrauen für Kranken- und Altenpflege, als engagierte Leitungskräfte und mutige Praktikerinnen alt geworden und nach Kaiserswerth zurückgekehrt waren. Sie waren in ihrer Altersrolle  ganz überwiegend moderner als jene aufsichtsführenden Männer und Frauen, die träumend an längst vergangenen Zeiten festhielten und das Ende der ‚Diakonissensache‘ nicht wahrhaben wollten. Diese Diakonissen konnten mit Stolz das Ende ihres Modells von Leben und Arbeit sehen, sie konnten mutig und bisweilen durchaus provozierend für neue Rollen und Aufgaben von Frauen in Kirche und Gesellschaft eintreten und gaben den Mitarbeitenden im Diakoniewerk, die ‚nur‘ in einem normalen Arbeitsverhältnis – statt mit einem Taschengeld mit einem Tariflohn, statt unbegrenzter Verfügbarkeit mit geregelter Arbeitszeit, statt mit Gehorsamshaltung mit Selbstbestimmtheit – tätig sind, das gute Gefühl, ihre würdigen Nachfolgerinnen und Nachfolger zu sein.

 

[Vereinigungschaos/1993-1996]  Kaiserswerth den Rücken zu kehren kam mir Ende der 1980iger, Anfang der 1990iger Jahre trotz mancher Widrigkeiten überhaupt nicht in den Sinn. Zwar hatten sich die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für die Diakonie mit der Wiedervereinigung 1989/90 in bemerkenswerter Weise verändert, doch davon war in Kaiserswerth kaum etwas zu spüren. Dagegen begann im Osten Deutschlands eine turbulente Phase der Sicherung und Sanierung von Einrichtungen der Diakonie, teilweise wurden staatliche Heime und Anstalten aus Zeiten der DDR von der Diakonie übernommen, die Mitarbeiterzahlen wuchsen sprunghaft und damit auch der Anteil derjenigen, die wenig oder gar nicht mit Diakonie und Kirche vertraut waren. Im Westen, so konnte man den Eindruck gewinnen, ließ die fällige Modernisierung der Dienste, die im Zuge der Deregulierung der Finanzmärkte und wachsender Probleme bei der Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen immer dringlicher wurde, zunächst noch auf sich warten. Was allerdings im Osten wie im Westen erkennbar war und auf Zukunft hin geradezu bedrohlich erschien, war der Mangel an neuen Führungskräften für eine Diakonie, die in kybernetischer Hinsicht nicht mehr mit bloßer Verwaltung zu lenken war. Es zeichnete sich ab, dass die Aktivitäten der Diakonie sich nicht ohne ein professionelles Management auf dem sich entwickelnden Sozialmarkt würden behaupten können. Provokant für die Ohren der älteren Direktoren- und Vorstehergeneration der großen Diakonieanstalten war die Rede von der ‚unternehmerischen Diakonie‘, die sich dem Markt mit seinen Wettbewerbsstrukturen zu stellen habe.

 

Vor diesem Hintergrund erhielt ich 1992 die Anfrage des Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, ob ich die Leitung der Diakonischen Akademie in Stuttgart sowie die des Diakonischen Aus- und Weiterbildungszentrum in Berlin, den beiden Bildungsinstitutionen, die der Diakonie in der Bundesrepublik bzw. der DDR als zentrale Bildungsstätten gedient hatten, zu übernehmen bereit sei. An beiden Standorten waren damals insgesamt annähernd fünfzig Dozentinnen und Dozenten tätig, die künftig in Berlin zusammenzuführen seien, so dass dort eine Führungsakademie auf Bundesebene entstehen  könne. Ich zögerte zunächst, würde ich doch mit Kaiserswerth ein Aufgabenfeld verlassen, auf dem noch für längere Zeit viel Veränderungsarbeit zu leisten gewesen war. Als ich schließlich, beraten durch Freunde und Kollegen, zusagte, lautete mein Programm, das eindeutig mit der Spitze des Diakonischen Werkes abgestimmt worden war: ‚Führungsakademie der Diakonie an einem Standort, und zwar nur in Berlin‘. Meine Zusage war mit der Bereitschaft verbunden, maximal zwei Jahre zwischen Stuttgart und Berlin zu pendeln, um so die überwiegend schwäbischen Dozenten auf den Wechsel nach Berlin vorzubereiten.  Zugleich würde ich als Direktor der Akademie Mitglied der Geschäftsführung des Bundesverbandes sein und von Berlin aus, meinem Dienst- und Lebensort, an allen  Sitzungen in Stuttgart teilnehmen. Als ich schließlich im April 1993 meinen Dienst begann, war es für mich noch nicht vorstellbar, dass sich wesentliche Vereinbarungen und Zusagen für meine Tätigkeit auf Bundesebene als nicht tragfähig erweisen sollten. Ich erlebte dann bis Januar 1996, dem Zeitpunkt meines von mir veranlassten Ausscheidens aus dieser Tätigkeit, eine zermürbende Arbeitsphase zwischen rasanter Bewegungslosigkeit in der Stuttgarter Diakoniezentrale und nachwirkendem Einfluss vergangener DDR-Kirchenkultur in Ost-Berlin.

 

Rückblickend auf diese Zeit und ohne auf Einzelheiten einzugehen lassen sich Ein- und Ansichten zur inneren Verfassung des Wohlfahrtsverbandes Diakonie in jenen Jahren beschreiben, die den Eindruck von Inkompetenz und Hilflosigkeit hinterlassen, Ausdruck „struktureller Dummheit“, so der Kommentar eines Kollegen zum vorerst gescheiterten Projekt Führungsakademie. Das Diakonische Werk mit seiner Bundeszentrale, der Hauptgeschäftsstelle in Stuttgart mit damals mehr als 350 Mitarbeitenden brauchte annähernd zwanzig Jahre, um den bereits 1992 ins Auge gefassten Umzug nach Berlin zu realisieren. Ein bisschen war man schon mit einzelnen Büros in Berlin; das Gerangel um jeden einzelnen Umzug und die unablässige Reisetätigkeit von Stuttgart nach Berlin und wieder zurück war nicht nur kostspielig, schon damals wurde der Prozess des schleichenden Bedeutungsverlustes des Spitzenverbandes Diakonie, der sich als unfähig erwies, sich an neue politische Gegebenheiten anzupassen, eingeleitet, ein Prozess, der bis heute anhält. Die Organisationskultur der Hauptgeschäftsstelle in Stuttgart kennzeichnete eine unbewegliche Behördenmentalität. Zahlreiche Alt-Achtundsechziger in den Fachabteilungen waren damals nicht in der Lage und willens, für eine veränderte, für eine unternehmerische Diakonie tätig zu sein. Das System des Bundesverbandes war insgesamt ein Dickicht von unklaren Zuständigkeiten, undurchsichtigen Entscheidungsprozessen, mangelnden Aufsichtsstrukturen und bisweilen sozialromantischen Vorstellungen von dem, was Diakonie ist und sein soll. Man muss so hart urteilen, wenn man sich der Frage stellt, was denn der output eines solchen Bundesverbandes ist, der trotz seiner beachtlichen personellen Ausstattung in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit und vor Ort, in den mehr als 25.000  Einrichtungen, Diensten, Anstalten und Unternehmen im Zeichen des Kronenkreuzes der Diakonie immer weniger wahrgenommen wird.

 

Das Projekt Führungsakademie war jedenfalls in dem Durcheinander der Jahre 1993 bis 1996 auch nicht ansatzweise zu realisieren gewesen. Einflussnahmen und Eingriffe von vielen Seiten verhinderten es, dass die Vermittlung von Managementwissen für eine neue Generation von Führungskräften in der Diakonie einen Ort bekam und Struktur erhielt. Die Zeit hierfür war in den Turbulenzen der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung wohl noch nicht reif. Erst mit der Eröffnung des Instituts für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement an der heutigen Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und dem Angebot der dort unterdessen etablierten Master- und PhD-Studiengänge wurde dieses Thema durch das Engagement von Prof.Dr. Alfred Jäger 2009 unter ganz anderen Bedingungen wieder aufgenommen und es entstand ein solider Rahmen für die Qualifizierung von Führungskräften in der Diakonie.

 

[Konversionen/1996-2007]   Lernen, sich die Niederlage einzugestehen – eine Kunst, wenn man Führungsverantwortung hat. Der Abschied von der Verbandsdiakonie auf Bundesebene, die heute mit der umständlichen und aufwendigen Koordination von 15 Landes- und rund 50 Bundes- und Fachverbänden beschäftigt ist, fiel leicht. Schmerzlich dagegen war die Einsicht, knapp drei Jahre in endlosen Sitzungen und hektischer Reisetätigkeit wenig bewirkt zu haben. Da schien es eine neue und sinnvolle Aufgabe zu sein, zurückzukehren in eine handfeste Managementtätigkeit und die Leitung der Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt Hephata im rheinischen Mönchengladbach zu übernehmen. Die Anstalt für rund 1500 Menschen mit einer geistigen Behinderung befand sich zum damaligen Zeitpunkt in  einem kritischen Zustand: über lange Zeit hin war ein riesiger Stau an grundlegenden Sanierungsmaßnahmen entstanden; die Banken gaben der Anstalt in wirtschaftlicher Hinsicht nur noch eine Lebensdauer von zwei Jahren; ein vierköpfiger Vorstand war am Ende über der Frage, wie Hephata zu retten sei, total zerstritten und wurde durch eine kommissarische Leitung von außen ersetzt; die Mitarbeiterschaft (rund 1500) war durch die mehrjährige Krisenzeit ebenfalls zerstritten und in mehrere Lager auseinander gebrochen. Mit dem Ausdruck eines halbherzigen Bedauerns kommentierte man auf der Bundesebene meinen Wechsel in diese unsichere und, wie es schien, aussichtslose Leitungstätigkeit am linken Niederrhein.

 

Was dann wider alles Erwarten in und mit der Anstalt, die sich heute Evangelische Stiftung Hephata nennt, geschehen ist, ist für den Zeitraum von 1996 bis 2005 in meinem Bericht von 2006/07 dargestellt.[10] Es ist gelungen, einen Prozess einzuleiten, dessen Erfolg anfänglich keineswegs sicher war und der auf die Auflösung des geschlossenen Anstaltssystems hinauslief. Das Ziel war nun nicht mehr die Sanierung der alten Anstaltsgebäude und die Erhaltung einer Sonderwelt ‚am Rande der Stadt‘. Die überkommene Anstaltsphilosophie geriet in die Kritik, das bisher herrschende fürsorglich-bevormundende Handlungsparadigma wurde problematisiert.[11] Das Motto lautete ‚Die Zeit der Anstalt ist vorbei‘, und das sollte in den folgenden Jahren mit allen Konsequenzen für die Organisation und das Management der Stiftung Hephata entscheidend werden. Um die Mitarbeitenden für diesen neuen Kurs zu gewinnen, wurden vielfältige Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten organisiert. Es begann die Konversion der gesamten Organisation in ein Unternehmen, das heute das Wohnen und Arbeiten für insgesamt 2500 Menschen mit einer Behinderung in Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen anbietet. Für das alte 17 ha große Anstaltsgelände in Mönchengladbach wurde städteplanerisch ein Konzept entwickelt, um für die Zeit nach dem Auszug der  Menschen aus den alten Anstaltsgebäuden und deren Abriss eine Anschlussnutzung vorzusehen.[12] Perspektivisch hat man darauf hin gearbeitet, hier ein neues Wohnquartier im städtischen Zentrum von Mönchengladbach entstehen zu lassen.

 

Der modellhafte Auf-und Umbruch der 1856 gegründeten Anstalt war sicherlich dadurch erleichtert worden, dass der marode Zustand vieler Gebäude und der gesamten technischen Infrastruktur einzelne Sanierungsmaßnahmen wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll erscheinen ließ, so dass ein völliges Umdenken und ein grundsätzlicher Neuanfang nahe lag. Dass ein solcher Prozess in Gang kam und Schritt für Schritt erfolgreich wurde, war möglich, weil theologischer und kaufmännischer Vorstand von Anfang an gemeinsam und immer wieder im Verlauf des anfänglich nicht konfliktfreien Konversionsprozesses Richtung und Ziel der Veränderungen markierten, und dabei wurden sie von einem kritisch und konstruktiv mitgehenden ehrenamtlichen Kuratorium unterstützt. Mindestens genauso bedeutsam war aber auch die Initiative von Fachkräften auf der mittleren Führungsebene, die mit den organisatorischen Veränderungen zugleich ein neues professionelles Profil in der Begleitung der Menschen, denen die Stiftung zu dienen hat, einforderten und praktizierten, weg von einem traditionellen Hilfeverständnis und hin zu Assistenz und Selbstbestimmung.

 

Die ‚Hephata-Jahre‘ von 1996 bis zu meinem Dienstende 2007 waren eine berufliche Phase intensivster Veränderungsarbeit. Zugleich reiften in dieser Zeit Einsichten, zu denen ich nicht gelangt wäre, wenn ich nicht zuvor in Kaiserswerth das Anstaltswesen und die Mutterhaustradition der Diakonissen sowie in Berlin/Stuttgart etwas von der rasanten Bewegungslosigkeit der verbandlich organisierten Diakonie kennengelernt und mit Erfolg und Misserfolg gestaltend Einfluss zu nehmen versucht hätte. Eine Einsicht, mehr noch: eine das konkrete Führungshandeln orientierende Grundüberzeugung setzte sich in diesen ‚Hephata-Jahren‘ bei mir durch: dass alle Leitungstätigkeit in den Diensten und Einrichtungen der  Diakonie nur mit einem unternehmerischen Management erfolgreich und zielführend sein kann. Sozialwirtschaftlich orientiertes Unternehmertum und Diakonie schließen einander nicht aus, etwa mit dem Verweis auf ein ‚christliches Menschenbild‘, das zwischen ‚Ökonomismus‘ und ‚Barmherzigkeit‘ zu unterscheiden wisse, sondern beides gehört zusammen, ergänzt sich. Ein professionelles Management und eine den Menschen zugewandte, ihnen nützende Diakonie sind keine Gegensätze. Die Zeiten bloßer Bestandsverwaltung, des Festhaltens an erstarrten professionellen Routinen und der Erhaltung hergebrachter Organisationsmuster um ihrer selbst willen sind vorbei. Kundenorientierung, Markt und Wettbewerb, permanente Innovation, offene Kommunikation  und Beteiligung – das sind bzw. müssen die wesentlichen Merkmale von Unternehmen in der Diakonie[13] sein, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine kleine Beratungsstelle, einen ambulanten Pflegedienst, um ein Krankenhaus  oder ein großes und komplexes Dienstleistungsunternehmen mit hunderten von Mitarbeitenden handelt.[14]

 

Eine andere Einsicht betraf das Thema Sozialstaat. Es war ein markanter und folgenreicher Einschnitt in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands, als im Jahre 2003 die damalige rot-grüne Bundesregierung unter dem Kanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 verabschiedete. Ziel war es, die Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu verbessern und den Sozialstaat gründlich zu reformieren. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“,  so hieß es knapp und unmissverständlich in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003, und damit wurde mehr und etwas anderes als ein Sparprogramm angekündigt. Ohne hier im Einzelnen auf die mit der Agenda verbundenen Maßnahmen einzugehen ist man sich heute weitgehend darin einig, dass damals wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, dass trotz zwischenzeitlich krisenhafter Phasen und weiterhin vorhandener interner Ungleichheiten heute von einem wirtschaftlich erfolgreichen Kurs in Deutschland gesprochen werden kann. 2003 wurde das seit mehr als 50 Jahren herrschende Wohlfahrtsmodell eines umfassend versorgenden und vielfältig in das Leben des Einzelne eingreifenden Staates zwar nicht aufgegeben, wohl aber in seinen Tendenzen zu permanenter Ausweitung begrenzt. Die Verantwortung des Einzelnen für die tatkräftige Sicherung seines Lebens vor allen Transfer- und Entlastungsleistungen des Staates, die Bereitschaft, ja die Notwendigkeit, sein Leben in unvertretbarer Weise in die Hand zu nehmen in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft, dies kam wieder in den Blick und damit wurde ein wesentliches Element einer liberalen Tradition nachholend betont und zu einer sozial-liberalen Politik eingesetzt.[15] Namhafte Vertreter der Diakonie und nicht wenige evangelische Sozialethiker haben die Agenda 2010 und die daraus folgende Entwicklung als ‚neoliberale‘ Fehlentwicklung und kalte ‚Ökonomisierung‘ des bewährten Sozialstaates diskreditiert. Am eingespielten Kartell von Wohlfahrtsverbänden, einem konservativ durchfärbten, parteiübergreifenden Sozialdemokratismus und wesentlichen Teilen des Protestantismus sollte sich nichts ändern, so lässt sich diese große Koalition der Kritiker der Agenda 2010 verstehen. Mir klingt der Moralismus, mit dem von dieser Seite in anwaltschaftlicher Anmaßung von den Opfern der Agenda-Reformen gesprochen wird, immer wieder unangenehm in den Ohren.

 

Mit einer dritten Einsicht, die nicht möglich gewesen wäre ohne die beflügelnden Erfahrungen in den ‚Hephata-Jahren‘, dass ein Unternehmen der Diakonie zu verändern, zu gestalten und zu führen ist, rühre ich an den Kern dessen, was gemeinhin als das unaufgebbar Unterscheidende aller Organisation und Tätigkeit von Diakonie beschrieben wird. Zunächst die maßgebliche Erfahrung aus diesen Jahren: insbesondere der im Rückblick hochkomplexe Konversionsprozess einer Anstalt wie Hephata, Schritt für Schritt Menschen aus der geschlossenen Welt herausbegleitend, Häuser schließend und abreißend, neues nachbarschaftliches Wohnen überall im Rheinland und dann auch in Westfalen ermöglichend, andere, zugewandtere Beziehungsmuster mit den Menschen einübend, die Mitarbeitenden zu erleben, wie sie neue Verantwortung übernehmen, bisweilen nicht wissend, ob die nächsten Schritte gelingen, all dies machte Sinn, ganz unzweifelhaft. Aber dann die Fragen: Muss diese Bewegung und Veränderung der Menschen zusätzlich durch überhöhende Zuschreibungen, Interpretationen, Predigten und Proklamationen von kirchlicher Seite sinnstiftend aufgewertet, zu einer Diakonie ‚im eigentlichen Sinne‘ erklärt werden, ein Tun und Führen, das mehr ist als ‚bloß sozial‘? Kann denn nicht das, was in organisierter Diakonie geleistet wird, wenn es damit die Menschen in ihren Kräften und ihrer ihnen möglichen Selbstbestimmung ernst nimmt und ihnen nutzt, im Erfolg wie im Misslingen Religion genug sein? Ist Diakonie denn von kirchlich-juristischen Auflagen im Rahmen eines eigenen Arbeitsrechtes und staatskirchenrechtlichen Privilegierung abhängig? Es führt angesichts dieser Fragen kein Weg an der Einsicht vorbei, dass kirchlich-konfessionell gebundene Religion unterdessen kontinuierlich abnimmt, und diese Auswanderung der Menschen aus mehr oder weniger in sich geschlossenen Kult- und Moralräumen wird anhalten. Die zentralen Aussagen der christlichen Tradition zu Gott, zu Leben und Tod, Schuld, Vergebung, Krankheit und Zukunft werden nicht mehr vorrangig in großen Glaubenskollektiven gedeutet, sie sind zwar nicht grundsätzlich in Vergessenheit geraten, aber sie gehen, sich zeitanpassend verändernd, ein in eine Vielfaltskultur, in der sie in Nähe und Vermischung mit einer Fülle von anderen Religionen, quasi-religiösen Strömungen und weltanschaulichen Tendenzen eine kulturreligiöse Unterströmung in der Gesellschaft darstellen.

 

Die wohlfahrtsstaatlich agierende Diakonie ist von dieser Entwicklung des Religiösen längst eingeholt worden, sie kann, wenn dies denn jemals möglich war, nicht mehr mit einer stimmigen kirchlich verfassten Sinnressource rechnen, sie ist eine ganz und gar ‚weltliche‘ Angelegenheit, eingebettet in die Zeitläufe. Ihr Management ist in nichts etwas anderes als ein gutes oder ein schlechtes Management in sonstigen sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen. Das Management hat die Verantwortung dafür, dass, wie ich es zu benennen versuche, die in der Gesellschaft vorhandene kulturreligiöse Unterströmung im Unternehmen der Diakonie thematisiert und für dessen normative Orientierung bewusst gemacht wird. Im Laufe der vielen Jahre meiner Tätigkeit hat sich in mir wachsend eine Bereitschaft entwickelt, den Absichten und Tätigkeiten der Diakonie eine fromm-religiöse und theologische Übermalungen zu verweigern und eher ins Schweigen zu gehen, um damit dem Unverfügbaren, dem Unabschließbaren und dem Offenen, das typisch ist für das Religiöse, etwas besser zu entsprechen. Die Vereinnahmung des Religiösen in seinen Ausprägungen in Frömmigkeit, Theologie und Kirchlichkeit für die Exklusivität organisierter Diakonie und für die Normativität eines anderen, weil ‚diakonischen‘ Managements steht einem solchen Verständnis des Religiösen, das im Innenraum des Einzelnen seinen Ort haben kann, hinderlich im Wege. Es kann immer weniger einleuchten, dass und wie Religion und Theologie zur Profilierung und Legitimation einer kirchlichen Sozialwirtschaft instrumentalisiert werden. Religion gehört in die Provinz des Individuellen, wirkt als Kraft der Selbstvergewisserung, weckt von innen her den „Geschmack am Leben“[16], dagegen ist die Theologie als akademische Disziplin die subsidiäre Reflexion, die, wenn sie sich nicht in weltfremden Spekulationen und Historismus verliert, eine Sprachschule für religiöse Erfahrungen des Einzelnen sein kann. Soviel zu einer nichts als vorläufigen Einsicht nach vielen Jahren des Auf und Ab, des Aufbrechens und Zögerns in meiner Tätigkeit in der Diakonie.

 

[Liberalität, Kultur] Diakonie, hinterlegt durch eine organisatorisch, rechtlich und finanziell verfasste Kirchlichkeit sowie eine akademisch formatierte Theologie – Religion als das Vertrauen oder auch als das Unvermögen dazu, dem Alltag, dem Handeln, der Zukunft einen transzendenten Sinn zuzusprechen – das Soziale als das immer wieder neu gegebene Versprechen, die Welt, das Leben besser zu machen -  dies sind, wie ich es in den zurückliegenden drei Jahrzehnten konsequenzenreich erfahren habe, keine voneinander getrennten Sphären. Was Diakonie, Religion und das Soziale miteinander verbindet, im Handlungsalltag zu einer unauflöslichen kulturellen Gemengelage werden lässt und eigensüchtige, exklusive Identitätsdiskurse  von Grund auf in Frage stellt, ist die Realität einer sozialstaatlich gesicherten Gesellschaft. Was zählt in dieser Gesellschaft, wie soll ihre Zukunft aussehen? Normative Vorgaben, womöglich mit dem Anspruch auf unbegrenzte Haltbarkeitsdauer und von welcher Seite auch immer lanciert, haben ihre Bedeutung verloren, sofern sie nicht dem kritischen und relativierenden Diskurs ausgesetzt wurden. Offen und lebensförderlich kann eine Gesellschaft dann sein, wenn in ihr der Streit um die angemessenen Wege und Methoden zur Gestaltung eines zivilisierten Zusammenlebens vorbehaltlos geführt wird, eine Gesellschaft, in der Vielfalt und Kompromissfähigkeit herrschen, einmal getroffene Entscheidungen revidiert, durch Besseres überholt werden können. Dazu gehört als Grundhaltung ein hohes Maß an Liberalität, was hier meint: grundsätzlich im Umgang mit anderen einen anspruchsvollen Respekt an den Tag zu legen, sich also mit einem möglichst geringen Grad bei dem Anderen einzumischen und ihn wenig demütigend zu behandeln; das Individuum mehr gelten zu lassen als das Allgemeine, die Gesellschaft, den Staat, die Kirchen; Kräfte der Selbststeuerung und Selbstsorge bei sich und den Anderen vorauszusetzen und zu fördern; allen Bestrebungen um ein Mehr an Freiheit einen guten Vorsprung vor dem stets utopieverdächtigen Drängen auf eine größere Gerechtigkeit einzuräumen.   


[1] Martin Walser, Ein springender Brunnen. Frankfurt am Main 1998, 282.

[2] Dokumente hierzu liegen im Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung in  Berlin. Paul Collmer, damals Vizepräsident des Diakonischen Werkes der EKD, wollte sich „mit solchem Quatsch“ wie meiner Anfang 1973 bei der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Arbeit nicht befassen. “Man konnte schon nicht mit den Nazis reden, so kann man es auch nicht mit diesen, die einen utopischen Sozialismus vertreten“, wird Collmer zitiert. Für die Annahme meiner Arbeit war die positive Begutachtung durch Prof. Dr. Günter Brakelmann sehr entscheidend.

[3] Knallrot war die Farbe des Buchdeckels von Diakonie und Restauration, 1975 im Luchterhand Verlag Neuwied erschienen, was mehreren verbandsdiakonischen Vertretern über Jahre hin die ideologische Einordnung des Inhalts erleichterte. 

[4] Vgl. die gründliche Arbeit von Johannes Michael Wischnath, Kirche in Aktion. Das Evangelische Hilfswerk 1945-1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission. Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B Bd. 14. Göttingen 1986.

[5] Forschung und Lehre auf diesem Feld werden vom Institut für Diakonie- und Sozialgeschichte der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel unter der Leitung von Prof.Dr. Matthias Benad organisiert.

[6] Vgl. meinen Bericht über die Tätigkeit als Gemeindepfarrer in der Kirchengemeinde Bochum-Querenburg: Abwesenheit der Ruhe. Tagebuchnotizen und Beobachtungen aus einem fünfjährigen Pfarramt. In: WPKG 68 (1979), 484-497.

[7] Den Prozess der Zielplanung in Kaiserswerth habe ich dargestellt in Diakonie als soziale Dienstleistung. Gütersloh 1994, 99-125. Das ‚blaue Buch‘ als Ergebnis dieses Prozesses ist, blättert man es heute durch, noch viel zu sehr von der Sorge getragen, dass das auf beunruhigende Weise sich verändernde, sich an neue Zeiten anpassende Diakoniewerk seine kirchliche Identität verlieren könnte. Die kirchlich-konfessionelle Ausrichtung der Diakonie wurde von mir damals noch nicht kritisch diskutiert. Trotzig betonte man: ‚Wir sind Kirche!‘, um sich damit der verfassten Kirche anzudienen und sich zugleich frei zu machen von der kirchlich auferlegten Pflicht, die Zugehörigkeit zur ‚Mutter Kirche‘ unter Beweis stellen zu müssen. Vgl. grundsätzlicher und auf die Gegenwart bezogen Kapitel 9 unten.  

[8] erschienen im Chr. Kaiser Verlag München, 1980.

[9] Wesentliche Teile meiner 8seitigen Stellungnahme sind wiedergegeben in: Johannes Degen, Freiheit und Profil. Wandlungen der Hilfekultur – Plädoyer für eine zukunftsfähige Diakonie. Gütersloh, 2003, 79f. Im Rahmen des Habilitationsverfahrens habe ich in einem Vortrag 1993 meine Position präzisiert: Trägerethik – Chance zur Profilierung diakonischer Krankenhausarbeit. Eine Fallstudie zum Organisationshandeln der Diakonie. Ruhr-Universität Bochum. Unveröffentlicht.

[10] Siehe in diesem Buch Kapitel 11 und in grundsätzlicher Perspektive Kapitel 12.

[11] Vgl. dazu in diesem Buch in Kapitel 5 weiterführend die Aspekte eines neuen Handlungsparadigmas mit dem Assistenzansatz und dem Kundenmodell.

[12] Zum heutigen Stand des Unternehmens Hephata siehe den Internetauftritt unter hephata-mg.de.

[13] Vgl. in diesem Buch in den Kapiteln 2 und 3 die grundsätzlichen Ausführungen zu den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen für das unternehmerische Handeln der Diakonie.  

[14] Vgl. in diesem Buch Kapitel 10 sowie auch ergänzend die Kapitel 6 und 7.

[15] Vgl. in diesem Buch Kapitel 4.

[16] William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Frankfurt am Main, Leipzig 1997, 473. Zuerst engl.: The Varieties of Religious Experience. Edinburgh 1901/02.    

 

2014